"Familienbewusstsein ist kein Softthema, sondern kann beinharte betriebswirtschaftliche Effekte erzeugen."

Prof. Irene Gerlach erklärt, warum mehr Familienbewusstsein dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann.

Nicole Beste-Fopma
Journalistin & Autorin

Der "war for talents" ist vorbei. "Talent" hat gewonnen. Der Fachkräftemangel ist in den Unternehmen in Deutschland angekommen. Viele haben Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu finden. Bis 2030 soll die Zahl, je nach Quelle, auf bis zu fünf Millionen steigen. Gleichzeitig zeigen Daten aus dem Familienministerium, dass mehrere hunderttausend Menschen – insbesondere Mütter – mit kleinen Kindern gerne bzw. gerne mehr arbeiten würden. Aber kann eine verbesserte Vereinbarkeit den Fachkräftemangel beheben? Prof. Dr. Irene Gerlach  beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. 2005 hat sie gemeinsam mit anderen Expert*innen das Forschungszentrum Familienpolitik (FFP) gegründet. Wir haben sie dazu befragt, ob mehr Familienbewusstsein dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann.

Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass dem Arbeitsmarkt rechnerisch mindestens 71.000 Vollzeitkräfte zu Verfügung stünden, wenn Mütter ihre Arbeitszeiten um nur eine Stunde aufstocken könnten. Lisa Paus sagt, dass, „Wenn alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viele Stunden im Job arbeiten würden, wie sie Umfragen zufolge gerne möchten, dann hätten wir mit einem Schlag 840.000 mehr Arbeitskräfte in Deutschland.“ Ist die Rechnung wirklich so einfach? Wäre damit der Fachkräftemangel in Deutschland auf einen Schlag gelöst?

Seit vielen Jahren ist bekannt, dass viele Mütter ihre Arbeitszeit gerne erhöhen würden und viele Väter dagegen weniger arbeiten möchten. Konkret handelt es sich aber bei letzteren oft um den Wunsch, keine Überstunden mehr machen zu müssen. Die Mütter dagegen wünschen sich nur in einer geringen Anzahl ein Vollzeitarbeitsverhältnis, warum? Sie tragen in den allermeisten Paarfamilien nach wie vor den Hauptanteil der Care-Arbeit. Außerdem stellt sich die Frage nach der Passung der Betreuungsangebote  und schließlich auch der Passgenauigkeit mitgebrachter Qualifikationen. Solche Rechenbeispiele mögen verführerisch sein, da der bloße Blick auf die Zahlen ein  Lösungspotenzial suggeriert, das so nicht vorhanden ist.

Was muss von Seiten der Politik geschehen? Die Bertelsmann Stiftung hat vor wenigen Wochen ein Untersuchung präsentiert, der zufolge in Deutschland 384.000 Kitaplätze fehlen. Ist der Ausbau der Kitaplätze die allumfassende Lösung? Was ist, wenn die Kinder in die Schule kommen? Sollten wir nicht endlich flächendeckend Ganztagsschulen einführen?

Nach wie vor ist das Betreuungsangebot für Kinder nicht ausreichend und in vielen Fällen wird das seit 2013 bestehende Recht auf den Betreuungsplatz unzureichend umgesetzt, weil weit entfernte Plätze angeboten werden oder auf Tagesmütter ausgewichen werden muss, ob die Eltern das wollen oder nicht. Der garantierte Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung für Schulkinder, der im Schuljahr 2026/27 kommen soll, sieht einen Betreuungsumfang von acht Stunden an allen fünf Werktagen vor, inklusive Unterrichtszeit. Das wird bei An- und Abfahrtswegen der Eltern zu ihrem Arbeitsplatz u. U. knapp. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass schon in den Kitas Fachkräfte in bedeutendem Maße fehlen, ist davon auszugehen dass für die Umsetzung des Rechtes auf die Ganztagsschulbetreuung noch einmal mehr als 100.000 pädagogische Fachkräfte fehlen. Die Politik müsste also schon jetzt erheblich in deren Ausbildung investieren.

Eine bessere Vereinbarkeit heißt ja nicht per se, dass lediglich die Kinder besser versorgt sein müssen, damit deren Eltern insbesondere die Mütter, mehr Stunden arbeiten können. Die gleichen Statistiken, die zeigen, dass Frauen mehr arbeiten wollen, zeigen, dass Männer gerne weniger arbeiten würden. Es muss daher auch bedeuten, dass die Väter die Möglichkeit haben müssen, weniger zu arbeiten, um mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Hebt sich das dann nicht gegenseitig auf?

Das wäre wieder der „Schein der Mathematik“: Die Abstimmung über die  Aufteilung von Erwerbs- und Care-Arbeit bei den Paaren müsste entsprechend gelingen und die Mütter müssten die beruflichen Kompetenzen der Väter mitbringen. Selbstredend gibt es eine große Anzahl  sehr gut qualifizierter Frauen/ Mütter, viele Frauen wählen aber nach wie vor „Frauenberufe“, in denen die Bezahlung schlechter ist und bei der Kalkulation dessen, was die Familie braucht, wird es dann oft bei der stärkeren Erwerbstätigkeit der Väter bleiben.

Hinzu kommt der Trend zur 4-Tage-Woche. Auch weil viele so Beruf und Familie besser vereinbaren können. Auch damit gehen dem Arbeitsmarkt Fachkräftestunden verloren. Wenn beide Elternteile die 4-Tage-Woche leben können, kann es ein „Nullsummenspiel“ werden. Dabei gilt es aber die oben erwähnten Einschränkungen zu beachten.

Wäre eine maximale Flexibilisierung der Arbeit, wo möglich, für alle Beteiligten besser?

Das kann man sicher nicht pauschal sagen. Die Erfahrungen in der Corona-Zeit haben gezeigt, dass Formen des mobilen Arbeitens Vereinbarkeit sehr wohl unterstützen können und dass die Arbeit im Homeoffice die Arbeitsteilung in den Familien beeinflussen kann. Waren beide Elternteile erwerbstätig, aber nur die Frau im Homeoffice, stieg der Anteil der Familien, in denen Mütter die Familienarbeit (fast) vollständig übernehmen, um 16 Prozent. Auch wenn nur der Mann im Homeoffice arbeitete, übernahmen Frauen mehr Kinderbetreuung. In Paarfamilien, in denen beide Elternteile im Homeoffice arbeiten, war kein Anstieg festzustellen. Daten aus April, Juni und November 2020 bestätigen diese Befunde teilweise: So berichteten Väter, die im Homeoffice arbeiten, häufiger von einer Egalisierung (18%) als Väter, die überwiegend im Betrieb arbeiteten (8%) (Jessen et al. 2021, S. 137; Zucco/Lott 2021, S. 20). Zahlen aus dem Februar 2021 zufolge arbeiteten 51 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland zumindest zeitweise von zu Hause aus (Bonin et al. 2021, S. 18). Dabei zeigt sich: Je höher Einkommen und Schulabschluss, desto größer ist der Anteil der Beschäftigten, die zumindest zeitweise im Homeoffice arbeiten (Bonin et al. 2021, S. 16). Allerdings darf hier auch nicht übersehen werden, dass eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Menschen nach dem Ende der Lock-Downs es sehr begrüßt hat, wieder im Betrieb zu arbeiten.

Ist auch hier die Politik gefragt? Brauchen wir ein Recht auf Homeoffice?

Eine Befragung aus dem November 2020 ergab, dass ein Großteil (65%) der Beschäftigten der Meinung war, die Arbeitgebenden hätten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geholfen. Beschäftigte mit niedrigerem formalem Bildungsstand stimmten hier mit 49 Prozent deutlich seltener zu als Beschäftigte mit hohem Bildungsstand (73%). Eine ähnliche Verteilung zeigte sich beim Einkommen: In der höchsten Einkommensgruppe sagten 76 Prozent, dass ihnen die Arbeitgebenden bei der Vereinbarkeit geholfen haben, in der niedrigsten stimmten nur 38 Prozent zu (Bertelsmann Stiftung 2021, S. 8). Grundsätzlich hängt die Möglichkeit zur Arbeit im Homeoffice stark von der  Tätigkeit und ebenso vom Arbeitsumfeld und dessen Organisation ab. Schüfe man einen Rechtsanspruch, müsste das jeweils überprüft werden und wäre mit einem enormen bürokratischen Aufwand verbunden. Daher würde ich ein allgemeines Recht auf Homeoffice nicht unterstützen.

Nicht alle Tätigkeiten können flexibel bzw. im Homeoffice ausgeübt werden. Wie können Arbeitnehmende/die Politik mit solchen Jobs unterstützt werden?

Das ist in der Tat die „neue Ungerechtigkeit“ auf dem Arbeitsmarkt, die mich immer wieder beschäftigt hat. Man könnte Arbeitnehmende, deren Tätigkeit kein Homeoffice ermöglicht, mit höheren Urlaubsansprüchen „entschädigen“.

Haben alle Arbeitgebenden mittlerweile verstanden, wie wichtig Familienbewusstsein ist?

Wenn es um familienbewusste Maßnahmen geht, dann hat die Corona-Pandemie durchaus beschleunigende Effekte verursacht. Zu den Betrieben, die schon vorher wussten, dass es sich lohnt entsprechend zu investieren, kamen diejenigen, die nun erfahren mussten, dass das Unternehmen nicht plötzlich zusammenbricht, wenn nicht alle Mitarbeitenden immer im Unternehmen sind.

Familienbewusstsein und wie wichtig es ist Eltern und pflegende Angehörige darin zu unterstützen Familie und Beruf zu vereinbaren, ist in der breiten Bevölkerung bereits angekommen. Dennoch wird es oftmals von Unternehmensseite als softes Thema eher vernachlässigt. Zu Recht? Bleiben wir in Deutschland konkurrenzfähig, wenn wir mit unseren Mitarbeitenden zu sehr auf „Kuschelkurs“ fahren?

Viele Studien haben ja mittlerweile nachgewiesen, das Familienbewusstsein kein Softthema ist, sondern beinharte betriebswirtschaftliche Effekte erzeugen kann. Zurück werden diejenigen bleiben, die das immer noch nicht verstanden haben, denn schon seit Jahren gehört die Frage nach Familienbewusstsein im Unternehmen zu denjenigen, die immer selbstbewusster in Bewerbungsgesprächen gestellt wird.




Literaturnachweis:
Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2021): Mitarbeiterorientierung und Engagement in schwierigen Zeiten. Eine Beschäftigtenbefragung zum Verhalten der Arbeitgeber während der Corona-pandemie.
Bonin, Holger/Krause-Pilatus, Annabelle/Rinne, Ulf (2021): Arbeitssituation und Belastungsempfinden im Kontext der Corona-Pandemie. Kurzexpertise im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Jessen, Jonas/Spieß, C. Katharina/Wrohlich, Katharina (2021): Sorgearbeit während der Corona-Pandemie: Mütter übernehmen größeren Anteil – vor allem bei schon zuvor unglei-cher Aufteilung. In: DIW Wochenbericht (9/2021), S. 131–139.
Zucco, Aline/Lott, Yvonne (2021): Stand der Gleichstellung. Ein Jahr mit Corona (WSI Re-port, 64/2021).

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