Der Fachkräftemangel sitzt am Küchentisch


Vereinbarkeit ist Ihr stärkstes Argument im Kampf um 840.000 ungenutzte Fachkräfte

Julia Becker
Managerin und Autorin

Vereinbarkeit klingt gut. Unternehmen schreiben sie in Leitbilder auf ihre Webseiten, in Präsentationen zur Arbeitgeberattraktivität und in ihre Diversity-Reports. Und doch bleibt sie für viele Eltern ein zähes Alltagsprojekt. Vielleicht liegt das daran, dass Vereinbarkeit abstrakt bleibt, solange man nicht selbst vor der Frage steht, wie man Kinder und Karriere tatsächlich miteinander arrangiert?
Ich erinnere mich gut an den Moment, als bei uns Theorie auf Wirklichkeit prallte: Unser erstes Kind war geboren, der Wiedereinstieg sorgfältig geplant – doch dann fiel der Kitaplatz weg. Plötzlich standen wir vor einem Dilemma, das viele Eltern nur zu gut kennen: Verlängerte Elternzeit? Teilzeitlösung für beide? Oder doch ein ungewisser Spagat in der Hoffnung, dass sich schon irgendetwas fügen wird?
Wir haben uns entschieden, nicht auf Glück oder Improvisation zu setzen, sondern auf eine Dienstleistung. Eine spezialisierte Agentur übernahm die Suche nach einem Kitaplatz – mitten im Jahr, mitten in der Großstadt. Innerhalb weniger Wochen lagen mehrere Optionen auf dem Tisch. Wir konnten wählen.

Auch aus BWL-Sicht die richtige Entscheidung

Was das gekostet hat? Rund 1.000 Euro – getragen von meinem Arbeitgeber! Was es gebracht hat? Einen reibungslosen Wiedereinstieg, ganz wie geplant. Während meiner Elternzeit hatte ein externer Anbieter meine Aufgaben übernommen. Hätte sich mein Ausstieg verlängert, wären seine Tagessätze deutlich teurer gewesen als mein eigenes Gehalt.  
Was also wie ein vermeintlich weicher „Family Benefit“ wirkt, war in Wirklichkeit eine betriebswirtschaftlich kluge Entscheidung: kurzfristig messbar, langfristig lohnend. Und genau darin liegt der Kern: Vereinbarkeit ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition in Produktivität, Loyalität und Zukunftsfähigkeit.

1,3 Milliarden Arbeitsstunden liegen brach!

Wer Vereinbarkeit nicht nur als soziale Geste, sondern als wirtschaftliche Strategie versteht, erkennt schnell ihr Potenzial: Beschäftigte, die Beruf und Familie in Einklang bringen können, kehren verlässlich aus der Elternzeit zurück, reduzieren ihre Fehlzeiten, bleiben ihrem Arbeitgeber länger treu – und arbeiten oft mehr, motivierter und konzentrierter.

Der Effekt lässt sich beziffern: Würden alle Mütter mit Kindern unter sechs Jahren so viel arbeiten, wie sie es gerne möchten, könnten der deutschen Wirtschaft rund 840.000 zusätzliche Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Das entspricht, je nach Arbeitszeitmodell, jährlich über 1,3 Milliarden Stunden produktiver Arbeit, die einfach brachliegen. Also etwa 14 Prozent mehr Arbeitsvolumen aller aktuell in der deutschen Automobilbranche Beschäftigten! Und das allein durch bessere Vereinbarkeit! Was für ein gewaltiger Hebel – gerade in Zeiten, in denen nahezu jede Branche über Personalengpässe klagt.

Kein HR-Thema, sondern Führungsaufgabe!

Leider agiert die Arbeitswelt manchmal noch so, als würde zuhause die Ehefrau Familie und Gedöns organisieren, während der Mann das Geld reinbringt. Ich spreche viel mit anderen hochambitionierten Müttern. Sie alle kämpfen täglich mit denselben Fragen: Wie bewerbe ich mich auf eine Führungsrolle in Teilzeit? Was, wenn das wichtige Meeting abends ist? Und warum bleibt all das oft unausgesprochen, als wäre Vereinbarkeit ein individueller Makel und kein strukturelles Problem?
Die Antwort liegt weniger in unternehmensweiten HR-Programmen als in der gelebten Führungspraxis. Denn es sind nicht „die Unternehmen“, die über Vereinbarkeit entscheiden – es sind einzelne Führungskräfte. Sie sind es, die den Takt der Zusammenarbeit bestimmen, die Meetings ansetzen, Zielbilder formulieren und Rahmenbedingungen setzen. Deshalb verstehe ich Vereinbarkeit nicht als HR-Thema, sondern als Führungsaufgabe!

Planbarkeit schafft Freiheit

In meinem eigenen Team folgen wir einem klaren Prinzip: Planbarkeit schafft Freiheit. Wir definieren gemeinsame Ziele für Woche, Monat, Jahr und lassen bewusst Raum für individuelle Bedürfnisse. Meetings finden zu abgestimmten Zeiten statt, Teilzeitmodelle werden respektiert, private Realitäten mitgedacht. Nach 17 Uhr wird selten noch diskutiert, sondern abgeschlossen.
Alle drei Monate kommen wir als Team physisch zusammen. Bewusst und gut geplant, im Einklang mit Schulferien, Veranstaltungen und familiären Verpflichtungen. Nicht, weil das ein besonders innovatives Modell wäre, sondern weil es nur so funktioniert.

Warum sich der mentale Aufwand lohnt

Natürlich bedeutet das Mehrarbeit, denn es braucht Planung, Abstimmung, Gespräche. Führungskräfte müssen verstehen, wie ihre Leute ticken, welche Lebensrealität sie haben. Das ist Führungsaufgabe! Wer sich hinter Konzernrichtlinien und HR versteckt, macht es sich zu leicht.
Die Benefits von Vereinbarkeit sind auch nicht unmittelbar sichtbar. Aber nach 6 bis 18 Monaten zeigt sich langsam: Die Stimmung wird besser. Die Leistung steigt. Und es entsteht ein Umfeld, in dem gute Leute bleiben wollen, weil sie ihr Familienleben organisiert bekommen und gleichzeitig ihre volle Power auf der Arbeit abrufen können.

Wir haben es in der Hand

Wer ein Team leitet, gestaltet Lebensrealitäten. Vereinbarkeit bedeutet nicht weniger Leistung, sondern klügeres Arbeiten: strukturierter, vorausschauender, zielgerichteter. Und sie beginnt nicht mit der großen Transformation, sondern mit kleinen, pragmatischen Entscheidungen. Zum Beispiel damit, Ergebnisse, statt Präsenzzeiten zur Grundlage der Zusammenarbeit zu machen. Oder damit, durch berechenbare Rhythmen und planbare Meetings Verlässlichkeit zu schaffen, besonders für diejenigen mit Erziehungs- und Betreuungsaufgaben. Und nicht zuletzt: indem Führungskräfte selbst sichtbar Vereinbarkeit vorleben, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Jobsharing-Modelle, Führung in Teilzeit, regelmäßige Gespräche über individuelle Bedürfnisse, eine aktiv unterstützte Kita-Vermittlung: All das sind keine revolutionären Ideen, sondern längst erprobte Werkzeuge, die eine große Wirkung entfalten können. Vereinbarkeit ist kein weiches Thema und schon gar kein Frauending. Sie ist ein strategischer Hebel für Leistung und langfristige Bindung. Und sie liegt dort, wo Verantwortung beginnt: bei uns Führungskräften!

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell, andere helfen uns, diese Website und deine Nutzererfahrung zu verbessern. Für weitere Informationen, sieh dir unsere Datenschutzerklärung an.