Mit Familienbewusstsein gegen den Fachkräftemangel

Kann Familienbewusstsein den Fachkräftemangel beheben? Eine Analyse

Nicole Beste-Fopma
Journalistin & Autorin

Die Bundesagentur für Arbeit meldete im August 2022 890.000 offene Stellen. Laut dem Institut für Wirtschaft Köln konnten über eine halbe Millionen Stellen nicht besetzt werden, da es keine passenden qualifizierten Arbeitslosen gab. Bis 2030 soll die Zahl, je nach Quelle, auf bis zu fünf Millionen steigen. Besonders betroffen sind Berufe im Gesundheitssektor. Hier ist bereits davon die Rede, dass Deutschland in der Pflege auf eine „humanitäre Katastrophe“ zusteuert. 2035 werden knapp 1,8 Millionen offene Stellen nicht mehr besetzt werden können, weil geeignete Kräfte fehlen. Besonders betroffen ist die Alten- und Krankenpflege. Aber auch in den Berufen der MINT Branche und im Handwerk gibt es einen massiven Fachkräftemangel. Gleichzeitig zeigen Daten aus dem Familienministerium, dass mehrere hunderttausend Menschen – insbesondere Mütter – mit kleinen Kindern gerne bzw. gerne mehr arbeiten würden.

„Stille Reserve“ entspricht bis zu 840.000 Fachkräften

Die Erwerbsquote bei Eltern mit mindestens einem Kind unter sechs Jahren lag 2019 bei 63,4 Prozent. Laut der Daten des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos würden 670.000 Mütter mit einem oder mehreren Kindern unter drei Jahren und die derzeit nicht erwerbstätig sind, gerne wieder in den Job einsteigen. Vorzugsweise in Teilzeit. 170.000 Mütter mit Kindern im Alter zwischen drei und fünf Jahren würden gerne (mehr) arbeiten.
Zahlreiche in Teilzeit arbeitende Mütter würden gerne Vollzeit arbeiten. Hinzu kommen 110.000 Mütter mit Kindern unter drei Jahren und 37.000 Mütter mit einem oder mehreren Kindern zwischen drei und fünf Jahren, die gerne mehr arbeiten würden.

Würden all diese Frauen und all die Frauen mit älteren Kindern, die derzeit weniger als 28 Stunden pro Woche arbeiten, ihre Arbeitszeit um nur eine Stunde erhöhen, würde dies 71.000 Vollzeitkräften entsprechen. Bundesministerin Lisa Paus geht sogar noch weiter und sagt: "Wenn alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viele Stunden im Job arbeiten würden, wie sie Umfragen zufolge gerne möchten, dann hätten wir mit einem Schlag 840.000 mehr Arbeitskräfte in Deutschland". Paus will sich daher für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzen.
Aber ganz so einfach ist die Rechnung nicht. Denn die Rechnung geht nur dann auf, wenn diese Mütter auch die gefragten Kompetenzen mitbringen, wie Prof. Irene Gerlach vom FFP (Forschungszentrum Familienpolitik Münster) im Interview mit LOB konstatiert: „Selbstredend gibt es eine große Anzahl sehr gut ausgebildeter Frauen/Mütter, viele Frauen wählen aber nach wie vor „Frauenberufe“. Ein Grund, weshalb das Thema Vereinbarkeit und Fachkräftemangel differenzierter betrachtet werden muss.

Männerdomänen: Kurzfristig jein – langfristig ja

Laut dem Mittelstandsbarometer 2021 von Ernst & Young haben 81 Prozent der Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie, 81 Prozent der Elektrotechnik Unternehmen, 78 Prozent der Unternehmen aus der Baubranche und dem Maschinenbau sowie 32 Prozent der Produktionsunternehmen die Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen. Die meisten dieser Branchen sind noch sehr Männer-lastige Branchen. Lediglich 13 Prozent der Beschäftigten im Wirtschaftszweig Baugewerbe sind weiblich, im Wirtschaftszweig Bauhauptgewerbe liegt der Anteil sogar nur bei 10 Prozent. Zwar gibt es mehr Frauen in Ingenieurberufen, aber in der IT Branche liegt der Frauenanteil noch immer bei nur 17 Prozent. Im Bereich Elektrotechnik ist der Anteil von Frauen sogar noch niedriger. Lediglich in der Chemie und Pharma lag er, Stand 2021, bei immerhin schon 33,7 Prozent.

Würden all die in diesen Branchen beschäftigten Frauen ihre Arbeitszeiten erhöhen, würde das folglich nur kurzfristig den Fachkräftemangel beheben und auch nur zu einem kleinen Teil. Nicht nur, weil in den MINT Berufen per se wenige Frauen arbeiten, sondern auch, weil der Anteil von in Teilzeit beschäftigen Frauen in MINT Berufen mit 28,1 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Aber langfristig könnte sich hier etwas tun.

Seit den 90er Jahren ist der Anteil der Studentinnen in den MINT-Fächern von 21 Prozent auf 31 Prozent gewachsen. 2020/2021 waren 44 500 Studentinnen in diesem Bereich eingeschrieben. Um die Studentinnen als Fachkräfte für die Unternehmen zu gewinnen, müssen diese sich aber anders aufstellen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat herausgefunden, dass viele Frauen, die ein MINT-Fach studiert haben, später nicht in MINT-Berufen tätig sind. Während durchschnittlich 70 Prozent aller Männer mit einschlägigem Studium fünf Jahre später mindestens einmal in einem MINT-Beruf gearbeitet haben, sind es bei den Frauen nur 56 Prozent. Einer der Gründe sind laut Studie fehlende Rollenvorbilder. Frauen fehlt aber auch die Möglichkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren. Ihnen fehlen flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeiten von Sonderurlaub oder Homeoffice. Hinzu kommt, dass insbesondere in der IT Welt, auch die Männer sich vermehrt eine bessere „Work-Life-Balance“ wünschen. Laut dem Whitepaper „Fachkräfte Recruiting – Mit diesen Maßnahmen punkten sie bei Ihrer Zielgruppe“ ist mit 48 Prozent eine bessere „Work-Life-Balance“ einer der Top-Gründe für die Suche nach einem neuen Job. Unternehmen, die diese Männer als Mitarbeitende halten wollen und müssen, werden auf die Forderungen der Frauen und Männer eingehen und sich familienbewusster aufstellen müssen.

Frauendomänen: Kurzfristig ja und langfristig auch

Mit knapp 88 Prozent Frauen in der Pflege liegt der Prozentsatz weiblicher Angestellten so hoch wie in keinem anderen Bereich. Gleichzeitig arbeiten 49 Prozent der Pfleger*innen in Teilzeit. Wenn es all diesen weiblichen Pflegekräften ermöglicht würde, eine Stunde mehr oder so viele Stunden zu arbeiten, wie sie gerne arbeiten würden, wäre dies ein großer Hebel, um den Fachkräftemangel zu beheben.  

Dazu müssten in der Gesundheitsbranche die Arbeitszeiten familienbewusster gestaltet werden. In aller Regel gehen Jobs in dieser mit Schichtdiensten einher, die dann wiederum die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschweren. 61 Prozent der Ärzt*innen und Pflegekräfte mit Leitungsposition leiden darunter. Auch Absolvent*innen, Wechselwillige und Arbeitslose sehen das so. 58 Prozent dieser Gruppe sehen insbesondere die Arbeitszeiten in der Pflege als Minuspunkt.

Wie Arbeitszeiten in der Pflege familienbewusst gestaltet werden können, zeigt das Kinderhospiz Löwenherz, das mehrere Häuser in ganz Deutschland betreibt, mit seinem Konzept der kurzen Dienste. Das flexible Modell ermöglicht es den Angestellten zum Beispiel von 8:30 bis 13:30 Uhr oder auch von 16 bis 21 Uhr zu arbeiten. Dorota Walkusz, Hausleiterin, erklärt, „Dass es für viele Mütter und Väter organisatorisch nicht möglich ist, bereits um 6 Uhr, wie zum Beispiel in der Klinik, mit der Arbeit zu beginnen.“ Das Konzept der kurzen Dienste gilt für alle. Denn, „es gibt viele Gründe, warum Pflegerinnen und Pfleger auf individuell angepasste Arbeitszeiten angewiesen sind.“

Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist aber nur ein Hebel. Ein anderer ist und bleibt das Gehalt, welches von den meisten als nicht adäquat empfunden wird.

Fazit

Betrachtet man den Arbeitsmarkt wird deutlich, dass insbesondere in den typisch männlich besetzten Branchen aber auch in den typischen Frauenberufen ein Fachkräftemangel herrscht. Wie das Institut für Wirtschaft schreibt, ist dies keine neue Erkenntnis, sondern deckt sich mit früheren Erkenntnissen des Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA). Schon 2019 wiesen Lydia Malin mit ihren Kolleginnen in der KOFA-Studie „Fachkräftesicherung in Deutschland – diese Potenziale gibt es noch“ darauf hin, dass „der überwiegende Teil der Stellen in Engpassberufen […] in männertypischen oder frauentypischen Berufen ausgeschrieben [wird]. Nur knapp 16 Prozent aller Stellen in Engpassberufen werden in geschlechtsuntypischen Berufen gemeldet“. Eine Möglichkeit, diesem Fachkräftemangel, aber auch dem Fachkräfteengpass entgegenzuwirken ist es, Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen.

Bildnachweis: Pexels – thisisengineering

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