Da rennt man jeden Morgen los, um das Kind oder die Kinder unterzubringen und hetzt dann zur Arbeit. Oft ist man dort immer noch mit den Gedanken bei den Kindern. Und gleichzeitig denkt man schon wieder an den Feierabend und das, was dann alles zu erledigen ist. Das eigene Leben dreht sich darum. Verständlich, denn schließlich sind die Kinder das Wichtigste im Leben. Und dann soll man „auf Arbeit“ auch noch perfekte Leistungen abliefern? Kann das überhaupt gehen? Muss das sein? Manchmal möchte man alles hinwerfen, aber es gibt Alternativen!
Wir leben und wirtschaften in einer komplexen Welt und nichts ist berechenbar. Mit elementarer Wucht schlagen immer wieder Ereignisse in unseren Alltag, die niemand vorausgesehen hat und die, allen Vorhersagen gemäß, eigentlich gar nicht hätten passieren können. Das ist im Großen so wie im Kleinen. Da fällt plötzlich die Berliner Mauer und Europa verändert sich. Fukushima löst eine abrupte 180-Grad-Drehung in der deutschen Energiepolitik mit drastischen Folgen für viele Industriezweige aus. über Nacht stürzt die VW-Aktie wegen einer unglaublich dummen Manipulation der Abgaswerte ab.
Aber auch bei den viel kleineren Dingen des Alltags wirkt die Komplexität und führt zu Abweichungen zwischen dem, was man möchte, sich vorgestellt oder geplant hat und dem, was dann tatsächlich eintritt. Da stecken sie gerade in einer wichtigen Arbeit, plötzlich kommt der Anruf, dass sie ihr Kind abholen müssen, weil es Fieber bekommen hat. Der Plan für den Tag war perfekt, aber bereits nach der ersten Stunde läuft alles ganz anders.
Solche Dinge passieren täglich, und sie bringen alles durcheinander. Und diese Art Störungen nimmt zu, der Stress wächst. Nicht etwa, weil uns irgendwelche Leute Übel wollen, sondern weil die Komplexität der uns umgebenden Welt immer mehr anwächst. Und das führt – sozusagen gesetzmäßig – zu mehr Ausfällen, Abweichungen und bösen Überraschungen. Weil das so ist, muss Perfektion eine Illusion sein. Man kann nicht perfekt sein, weil die komplexe Welt zu viele Überraschungen bereithält. Einerseits könnte das ganz beruhigend sein, denn schließlich geht es allen so. Aber Menschen sind komisch. Sie bilden sich trotzdem ein, perfekt sein zu müssen. Sie wollen um jeden Preis Fehler vermeiden. Und da dies aussichtslos ist – objektiv aussichtslos – macht es unendlichen Stress.
Wenn das so ist, sollte das unbedingte, bedingungslose Streben mancher Menschen nach der perfekten Lösung misstrauisch machen. Solange dahinter eine Haltung von Gewissenhaftigkeit, ein hoher persönlicher Anspruch an Leistung und Organisiertheit steht, gibt es keine Einwände. Wenn jedoch die Grenze zur Zwanghaftigkeit überschritten wird, permanente Versagensängste und depressive Symptome auftreten, dann wird es kritisch. Man nennt diese Menschen Perfektionisten. Ihnen genügt es nicht, dass in der Situation Menschenmögliche zu tun. Zwanghaft treiben sie sich selbst und ihre Umgebung an, sind niemals zufrieden, tolerieren keinerlei Abweichungen, erlauben kein Nachlassen. Sie jagen einem Phantom nach.
Hier liegt eine Dysfunktionalität vor. Perfektionisten handeln zwanghaft, weil angstgetrieben. Sie sind erhöhtem Distress ausgesetzt. In verschiedenen klinischen Studien wurden Zusammenhänge mit kritischen Krankheitsbildern hergestellt, wie Angst- und Zwangsstörungen, Alkoholismus, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Depression, sexuelle Funktionsstörungen bis hin zu Selbstmordgedanken. Die Burnoutrate wächst beängstigend an.
In vielen Unternehmen und Institutionen ist das Sterben nach Perfektion Grundlage der Arbeit. Solange das in einem vernünftigen Miteinander verwirklicht wird, ist es positiv und nichts dagegen einzuwenden. Wenn dagegen Perfektionismus um sich greift, vielleicht sogar zur Doktrin wird, dann nimmt die Organisation Schaden.
Perfektionismus macht Angst und Kontrolle zu dominierenden Themen. Der sogenannte sozio-systemische Erfolgsfaktor Vertrauen als treibende Kraft für gute Zusammenarbeit, Kreativität, Innovation und für Unternehmenserfolg schwindet. In einer solchen Atmosphäre gedeihen Regelungs- und Kontrollwut. Alles wird vorgeschrieben, in dem Glauben, dadurch zu besseren Ergebnissen zu kommen. Unternehmerisches Risiko und Entscheidungsmut werden dort nicht belohnt. Das Ganze geht einher mit der Ausbildung starker Hierarchien und befestigter Bereichsgrenzen. Und am Ende geht im Unternehmen nichts mehr normal – die Organisation ist verblödet. Nun soll niemand glauben, er selbst und sein Unternehmen seien gegen Perfektionismus gefeit. Je größer der Druck, desto häufiger werden Anforderungen nicht erfüllt. Es bedarf nicht unbedingt eines perfektionistischen Chefs, der seine Umgebung unter Kontrolle zwingt, sondern die Eigendynamik von Organisationen führt, wenn sie nicht gebremst wird, in die Perfektionismusfalle. Langsam, schleichend, aber sicher.
Die Medizin gegen „Perfektionismusbefall“ ist der Mensch. Das klingt zunächst überraschend, denn schließlich ist er Betroffener und in gewisser Weise auch Verursacher des Perfektionismus und seiner Auswirkungen. In sehr vielen Fällen – überall dort, wo Perfektionismus sich ungezügelt ausbreitet – sind Menschen jedoch passive Teile des „Systems“. Sie ordnen sich den Regeln und Bedingungen im Unternehmen unter, hinterfragen sie nicht und folgen ihren Gewohnheiten. Das muss aber nicht so sein, denn Menschen haben die Fähigkeit zu gestalten, auch die Systeme, zu denen sie selbst gehören. Hier liegt die Chance, um mit den Gegebenheiten eines stressigen Alltags besser zurecht zu kommen.
Das Arbeitsumfeld kann so gestaltet werden, dass die Arbeit entspannter geschafft wird. Ausgangspunkt kann die einfache Frage sein, wie man die erforderlichen Ergebnisse mit nur 80 Prozent des üblichen, gewohnten Einsatzes schaffen kann. Diese Frage kann man sich persönlich stellen und seine eigenen Antworten darauf finden. Besser ist es jedoch, gemeinsam mit den Kollegen und mit Freunden darüber nachzudenken. Wenn man sich gemeinsam auf diese Frage konzentriert, sie sozusagen zu einem neuen Paradigma erhebt, dann ergeben sich viele Möglichkeiten, mit weniger Aufwand zum Ziel zu kommen. Wir können die sozialen Systeme, in denen wir uns bewegen, besser nutzen, um das Arbeiten und Leben zu erleichtern.
Stefan Fourier, "Schlau statt Perfekt . Wie Sie der Perfektionismusfalle entgehen und mit weniger Aufwand mehr erreichen". BusinessVillage, 2015 . 19.80 Euro
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