Wenn Mitarbeiter Vereinbarkeit fordern

Noch ist familienbewusstes Führen keine Selbstverständlich­keit. Über die Chancen und Grenzen familienbewussten Führens.

Nicole Beste-Fopma
Journalistin & Autorin

Kollege A ruft an: „Mein Kind ist krank, ich kann heute leider nicht an dem Kundenmeeting teilnehmen.“ Kollege B kommt mittags mit Neuigkeiten vorbei: „Ich nehme ab nächsten Monat für ein halbes Jahr Elternzeit.“ Und Kollegin C kann immer nur bis 16:00 Uhr arbeiten, weil sie ihre Mutter pflegen muss. Die Führungskraft dieses Teams steht in diesen Fällen vor einer kaum lösbaren Aufgabe. Schließlich muss die Arbeit gemacht werden. Familienbewusste Führung bietet nicht nur Lösungsansätze für solche Situationen, sie ist für Unternehmen auch ein Weg, heute und in Zukunft wertvolle Fachkräfte zu sichern. Spätestens seit die Frauen und vor allem die Mütter als stille Arbeitsmarktreserve entdeckt wurden, wird das Thema Familienbewusstsein immer mehr zur wirtschaftlichen Notwendigkeit für Unternehmen. Aber auch die Generation Y fordert vehement ein Umdenken hin zu einer besseren Balance von Beruf und Familie/Freizeit. Die Ergebnisse der aktuellen forsa-Studie „Eltern heute – immer mehr unter Druck“ im Auftrag der Zeitschrift Eltern zeigen, dass 67 Prozent der Mütter und sogar 85 Prozent der Väter der Meinung sind, dass beide Elternteile gleichermaßen für die Kinder zuständig sein sollten. Das ist auch ein Signal an die Führungsetagen in den Unternehmen. Homeoffice-Tage beziehungsweise flexible Arbeitszeiten reichen nicht mehr aus: „Um den Belangen der neuen Generation Eltern gerecht zu werden, muss eine Unternehmenskultur etabliert werden, in der die Führungskräfte familienbewusst führen sollen, dürfen, wollen und können“, sagt Sigrid Bischof, Auditorin der berufundfamilie gGmbH sowie Beraterin und Trainerin für Personal- und Organisationsentwicklung.

Der Weg zum familienbewussten Führen

Unternehmen, die von ihren Führungskräften einen familienbewussten Führungsstil fordern, müssen eine Kultur schaffen, in der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie/Freizeit eine Selbstverständlichkeit ist. Auf allen Ebenen im Unternehmen aber auch nach außen muss sichtbar kommuniziert werden, dass „familienbewusstes Führen“ ausdrücklich erwünscht ist. Im Software-Unternehmen SAP ist das Familienbewusstsein daher bereits strategisch verankert. Um die familienbewusste Unternehmenskultur zu unterstützen, gibt es bereits seit einigen Jahren die Abteilung „Family&Career“, die zum Bereich Human Resources Deutschland gehört. „Generell muss das oberste Management davon überzeugt sein, dass das Familienbewusstsein Vorteile für alle hat. Die Aufgabe der Führungskräfte ist es dann, diese Haltung zum Ausdruck zu bringen, indem sie Verständnis für die verschiedenen Lebensphasen zeigen und ihre Mitarbeitenden bestmöglich unterstützen. Denn nur wenn die Mitarbeitenden das Gefühl haben, dass es selbstverständlich ist, die gebotenen Möglichkeiten auch zu nutzen, ohne langfristig Benachteiligungen befürchten zu müssen, ist das Ziel einer familienbewussten Führung erreicht“, erklärt Christine Rosendahl, Head of Familiy&Career bei SAP.

Zentrales Element ist hier die Kommunikation. Um dem Thema das nötige Gewicht zu verleihen und das Familienbewusstsein nachhaltig in der Unternehmenskultur zu verankern, muss es sowohl unternehmensintern als auch -extern kommuniziert werden. Angefangen bei der Betriebsvereinbarung und der Unternehmensphilosophie über die Mitarbeiterzeitung, das Inter- und Intranet bis hin zur Imagebroschüre und dem Jahresbericht. Aber auch bei Vorträgen und öffentlichen Auftritten muss das Top-Management das Thema ansprechen und sich dazu positionieren. „Nur so erhält familienbewusstes Führen einen Aufforderungscharakter, und die Führungskräfte begreifen, dass es von allen Ebenen gewünscht wird“, sagt die Auditorin Sigrid Bischof.

Grundvoraussetzung: Familienbewusstsein als strategisches Ziel

Welche positiven Effekte eine familienbewusste Unternehmenskultur hat, zeigen die Studien des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik (ffp) seit Jahren. „Damit das Familienbewusstsein aber Teil der Unternehmenskultur wird, muss sie ein strategisches Ziel sein, dessen Nutzen für alle evident ist“, so Sigrid Bischof. Mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel, aber auch auf die Quote, müssen die Unternehmen sich daher einen Überblick verschaffen, wie sie aufgestellt sind. Wie hoch ist der Frauenanteil? Wie viele Frauen verlassen das Unternehmen, um sich der Familie zu widmen? Wie ist die Altersstruktur? Sobald erkannt wird, dass eine familienbewusste Unternehmenskultur dabei hilft, bestimmte Funktionen und damit den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu sichern, wird laut Sigrid Bischof auch familienbewusstes Führen möglich.

Weniger Kontrolle, mehr Freizeit

Die easySoft. GmbH mit Sitz in St. Johann hat sich ganz bewusst für eine familienbewusste Unternehmenskultur entschieden. „2008 merkten wir drei Geschäftsführer, dass das Unternehmen nicht mehr gut lief. Der Knackpunkt waren unsere Werte: Menschlichkeit, Gesunderhaltung und Familie, die nicht von allen Mitarbeitern gleich getragen wurden“, berichtet Andreas Nau, einer der Geschäftsführer und Vater von vier Kindern. „Wir haben uns dann ganz bewusst dazu entschieden, Regeln aufzustellen, die unseren Kollegen mehr Freiheiten und somit der Familie mehr Raum geben.“ Heute darf bei easySoft sonntags nicht gearbeitet werden, auch Dienstreisen werden nicht sonntags angetreten. Es gelten Vertrauensarbeitszeiten – jeder arbeitet so, wie er es für sinnvoll hält. „Selbstverständlich gibt es Teammeetings, an denen unsere Mitarbeiter teilnehmen müssen. Auch die Kunden müssen bedient werden, aber wann und wie das geschieht, liegt in der Hand des jeweils verantwortlichen Mitarbeiters“, so Andreas Nau. Das Ergebnis: Die Geschäftsführer müssen heute weniger regulierend eingreifen als noch vor 2008. Die Mitarbeiter sind engagierter; alle wollen die gesetzten Ziele erreichen. Führung ist einfacher geworden.

Geben und Nehmen in Balance

Das Sollen und das Dürfen liegen bei diesem Thema nah beieinander. In wieweit eine familienbewusste Unternehmenskultur das Unternehmen durchdringt, hängt oftmals stark von den Kollegen ab. „Will eine Führungskraft das eigene Team familienbewusst führen, trifft aber im Umfeld nur auf Kollegen, die diesem Führungsstil skeptisch gegenüber stehen, wird es schwierig“, weiß Sigrid Bischof aus Erfahrung. SAP bietet daher unter anderem die Informationsveranstaltung „Management Fundamentals“ an. Hierbei geht es darum, angehenden Führungskräften Handlungsfelder im Bereich Vereinbarkeit von Beruf und Familie aufzuzeigen und ein Bewusstsein für das Thema zu etablieren. Anschließend, so das Ziel, fühlen sich Führungskräfte befähigt, ihre Mitarbeitenden darin zu unterstützen, allgemeine und spezifische Angebote bei SAP zu nutzen und an die individuelle Situation anzupassen.

Von Seiten des Managements muss außerdem eine Fehlerkultur möglich sein, in der Neues ausprobiert werden darf. „Wer auf individuelle Anforderungen eingehen muss, weiß, dass es nicht den goldenen Weg gibt, der für alle passt. Unternehmen, die einen familienbewussten Führungsstil erlauben, müssen daher ihren Führungskräften zugestehen, neue Wege auszuprobieren und eventuell zu scheitern“, rät Sigrid Bischof. „Um den Erfahrungsaustausch unter den Führungskräften anzuregen, eignen sich zum Beispiel regelmäßige Gesprächsrunden.“ Mindestens so entscheidend wie die Führungskollegen ist aber auch das eigene Team. Um das Thema zu etablieren, empfiehlt die Expertin, das Geben und Nehmen im Team in Balance zu halten. Insbesondere muss darauf achten, dass Mitarbeiterinnen ihren „Rechtsanspruch als Mutter“ nicht immer wieder geltend machen und in eine Nehmerposition verfallen.

Von Mensch zu Mensch begegnen

Führungskräfte, die familienbewusst führen wollen, haben den Nutzen für das Unternehmen, aber auch für sich selbst erkannt. „Ich freue mich immer über das Glänzen in den Augen einer Führungskräfte, wenn sie mir erzählen, dass z.B. ihre 80-Prozent-Kraft so motiviert und vor allem so gut organisiert ist, dass sie genau so viel wegschafft wie so manche Vollzeitkraft, die nicht den Druck hat, pünktlich zu Hause zu sein“, erzählt Sigrid Bischof. Diese Führungskräfte haben ein Bewusstsein für die Herausforderungen entwickelt, vor denen berufstätige Eltern und pflegende Angehörige stehen – und zeigen Verständnis dafür.

Damit sich die Mitarbeiter auch in schwierigen familiären Situationen gegenüber ihren Vorgesetzten öffnen, hat Sigrid Bischof einen Tipp: Führungskräfte sollten sich ihren Mitarbeitenden gegenüber als Menschen zu erkennen geben. „Nur wenn die Vorgesetzten auch als Mensch mit oder ohne Familie sichtbar sind, trauen sich die Mitarbeitenden, mit den eigenen familiären Herausforderungen an sie heranzutreten“, ist die Auditorin überzeugt. Diese offene Kommunikation ermöglicht es, mit der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter gemeinsam eine konkrete Lösung zu finden.

Die Führungskraft als Coach

Hier ist das Top-Management gefragt, das den Führungskräften die nächsten Schritte ermöglichen muss. Zunächst einmal müssen die Führungskräfte wissen, welche Möglichkeiten und Maßnahmen es im Unternehmen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt, also zum Beispiel wer die Ansprechpartner sind und wo es Informationen rund um die Vereinbarkeit gibt. Auch hier ist die Kommunikation ein zentrales Mittel. Führungskräfte müssen regelmäßig über das Thema Vereinbarkeit im Unternehmen informiert werden, die Informationen sollten zum Beispiel im Intranet griffbereit und leicht auffindbar sein, aber gleichzeitig auch immer wieder in den anderen internen Medien, wie der Mitarbeiterzeitung oder durch Aushänge am Schwarzen Brett des Unternehmens kommuniziert werden.

Die Unternehmensspitze muss aber auch in die Weiterentwicklung ihrer Führungskräfte investieren. Denn mit dem Paradigmenwechsel hin zu einem familienbewussten Führen wird die Führungskraft mehr und mehr zum Coach. Michael Bartz, Professor an der IMC FH Krems und Leiter des Forschungsbereichs „New World of Work“ sagt: „Bisher war Führung mit einem Sichtflug vergleichbar. Die Führungskräfte hatten ihre Mitarbeitenden im Blick und konnten sehen, wo Handlungsbedarf war. Zukünftig werden sie lernen müssen, ihre Mitarbeitenden über das Erreichen von Zielen zu führen.“ Er empfiehlt daher, die Spielregeln klar zu definieren: „Gerade wenn man virtuell und räumlich wie zeitlich flexibel arbeitet, muss geregelt sein, wie kommuniziert und gearbeitet wird. Wie oft müssen die Mitarbeitenden physisch in der Firma anwesend sein, damit auch die soziale Interaktion stattfinden kann? Wie viel Flexibilität ist erlaubt? Wie sieht die Abstimmung bezüglich der Flexibilität aus und wie wird diese abgestimmt? Wenn zum Beispiel ein elektronischer Kalender genutzt wird, muss geregelt sein, welche Termine und wie frühzeitig diese eingetragen werden. Aber auch der Umgang mit Freizeit muss geregelt sein. Erwartet die Führungskraft zum Beispiel, dass auch während der Freizeit Anrufe entgegengenommen werden oder ist Freizeit wirklich freie Zeit? Wenn die Spielregeln nicht geklärt sind, wird es für die Arbeitnehmer stressig.“

Eine besondere Herausforderung an das familienbewusste Führen stellen die veränderten Lebensmodelle der Mitarbeitenden. „Die Führungskräfte müssen lernen, zu abstrahieren. Das eigene Lebensmodell, das in vielen Fällen noch mit der traditionellen Rollenverteilung gelebt wird, darf nicht auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übertragen werden. Die Führungskraft muss sich von diesen Stereotypen befreien und alle Lebensentwürfe akzeptieren“, erklärt Sigrid Bischof.

Familienfreundliches Führen hat Grenzen

Trotz der vielen Vorzüge und des Nutzens eines familienbewussten Führungsstils hat dieser auch seine Grenzen. Diese können wirtschaftlicher aber auch persönlicher Natur sein. So erfordern beispielsweise bestimmte Funktionen eine gewisse Stundenzahl. Aufgrund der immer gegebenen Rüstzeiten erlauben sie reduzierte Vollzeit nur mit vielen Unterstützungssystemen. Laut Sigrid Bischof verkraften manche Abteilungen nur eine begrenzte Zahl an Teilzeitkräften, zum Teil aus so simplen Gründen wie Platzmangel. „Wenn jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter einen eigenen Schreibtisch beansprucht, kann es eng werden.“ Der Paradigmenwechsel, auf einen eigenen Schreibtisch zu verzichten und sich abzusprechen, ist meist etwas langwieriger. Die Erfahrungen bei SAP zeigen, dass auch bestimmte Lebensphasen der Mitarbeitenden eine besondere Herausforderung an ein familienbewusstes Führen stellen. „Es gibt Phasen, die eine extrem hohe Aufmerksamkeit erfordern, gleichzeitig aber schlecht planbar sind, wie zum Beispiel die Pflege von Angehörigen während des letzten Lebensabschnitts. Flexible Arbeitszeitkonten und eine befristete Freistellung können hier helfen, aber diese Flexibilität muss sowohl von den Vorgesetzten als auch vom Team getragen und verkraftet werden“, berichtet Christine Rosendahl.

Familienbewusstes Führen als wirtschaftliche Notwendigkeit

Insgesamt kommen die Untersuchungen des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik (ffp) zum „Status quo der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in deutschen Unternehmen sowie betriebswirtschaftliche Effekte einer familienbewussten Personalpolitik“ zu folgendem Ergebnis: Gegenüber Unternehmen ohne eine familienbewusste Unternehmenskultur steigt in Unternehmen, die familienbewusst führen, die Mitarbeitermotivation um 31,5 Prozent, die Krankheitsquote sinkt um 38,8 Prozent, die Fehlzeitenquote sinkt um 40,5 Prozent und die Mitarbeiterproduktivität steigt um 26,3 Prozent. „Diese Zahlen sprechen für sich und spiegeln auch die Erfahrungen wider, die SAP macht“, sagt Christine Rosendahl. Und Sigrid Bischof erklärt: „Die Zahlen zeigen aber auch, dass das Thema Familienbewusstsein und die damit verbundene familienbewusste Führung kein Sozialprojekt ist, sondern wirtschaftliche Notwendigkeit.“

Bildnachweis: pexels – fauxel

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